Rettung eines jungen Hirschs

Rettung eines jungen Hirschs

Rettung eines jungen Hirschs

Am frühen Nachmittag des 19.02.2015 wurde von einem Bauern und Jagdgenossen ein Rothirsch vom 4. Kopf in Rheinland-Pfalz nahe der saarländischen Landesgrenze gemeldet, der sich in einem nachlässig in der Koppel verbliebenen Weidezaun verfangen hatte. Vermutlich verfing sich der Hirsch in der vorangegangenen Nacht und bei seinen Befreiungsversuchen verwickelte sich das Kunststoffband zu einem nicht entwirrbaren Geflecht in einer dürren Fichte am Koppelrand.

Erste Versuche, sich dem Tier zu nähern, zeigten dem umsichtigen Bauern, dass ein Befreien ohne weitere Hilfe unmöglich war, da der Radius, den der gutkonditionierte Hirsch noch zur Verfügung hatte zu groß war. In einer solchen Situation bedeuten die kraftvollen Läufe und das Geweih unweigerlich Todesgefahr für Menschen.

Revierpächter und Jagdaufseher wurden in Anbetracht der scheinbar ausweglosen Umstände verständigt und es schien zunächst der Fangschuss als letzte Option festzustehen. Von den zuständigen Jägern wurde auch der Obmann des Rotwildrings informiert, der die Freigabe zur Erlegung erteilte. Diese Entscheidung fiel allen Beteiligten nicht leicht, da es wohl jedem Jäger grundsätzlich widerstrebt, einen gesunden Hirsch, erst recht nicht in dieser Altersklasse und unter diesen Umständen förmlich zu exekutieren.

Da den zuständigen Jägern ein jüngst abgeschlossenes Telemetrieprojekt über das Rotwild in der Region geläufig war, das unter der Leitung  von Dr. Daniel Hoffmann und meinem Bruder Dr. Sebastian Hoffmann durchgeführt wurde, verständigte mich der Jagdaufseher und bat um Unterstützung. Eine Narkotisierung des „Gefangenen“ mittels Narkosegewehr war somit eine reale Alternative zum Fangschuss.

Umgehend wurden die Vorbereitungen getroffen und schon nach einer guten halben Stunde konnten mein Bruder und ich uns von der „Lebendigkeit“ des Hirschs überzeugen. Eine Narkose bei kalter Witterung bei einem adrenalingefluteten Wildtier mit einem Lebendgewicht von deutlich über 100 Kilogramm ist jedoch keineswegs ein Selbstläufer. Als Narkosemittel wurde die sog. Hellabrunner Mischung angesetzt, die jedoch nicht zu stark abkühlen darf. Um den Hirsch möglichst wenig zusätzlich zu beunruhigen, näherten wir uns mit vorbereitetem Narkosegewehr im Geländewagen auf gut 20 Meter.

Zur Schussabgabe selbst ist zu beachten, dass ein Narkosepfeil in seiner Ballistik nicht zu vergleichen ist mit einem Büchsengeschoss. Je nach Entfernung zum  Ziel ist der Gasdruck der Waffe exakt anzupassen und von besonderer Wichtigkeit ist die Ruhe des Wildes. Bereits bei einer Schussdistanz von über 20 Metern und je nach eingesetztem Pfeil gelingt es z.B. Rotwild dem heranfliegenden Pfeil auszuweichen und der Schuss geht ins Leere. Erfahrung und viele Pirsch- oder Ansitzstunden sind somit die Regel bei Freilandstudien, bei denen Wildtiere immobilisiert werden sollen.

Der junge Hirsch hat sich mit dem Geweih in einer Elektrolitze verfangen und konnte sich selbst nicht befreien.

Erst nach erfolgreicher Immobilisierung mittels eines Narkosegewehrs ist ein Herantreten gefahrlos möglich. 

Der Hirsch wird von der Litze befreit, die sonst seinen Tod bedeutet hätte. 

In diesem Fall war der Hirsch ständig in seinem noch verfügbaren Radius in Bewegung, so dass erst nach minutenlangem Warten ein sicherer Schuss auf die Keule angebracht werden konnte. Danach ist Ruhe – gerade bei der Hellabrunner Mischung – entscheidend. Mindestens 20 Minuten ohne Störung sollen vergehen, bis ein Herantreten möglich ist. Der anzunehmend hohe Adrenalinwert des hier beschossenen Hirschs ließ es erforderlich werden, nach ca. 30 Minuten einen zweiten Schuss nachzusetzen. Erst nach weiterer Wartezeit  war die Immobilisation soweit erreicht, dass ein sicheres Annähern möglich war. Zunächst wurden die Lichter abgedeckt. Dies ist dringend anzuraten, da bei der sukzessiven Metabolisierung des Narkosemittels das Aufwachen dadurch verlangsamt wird. Manche Individuen fallen auch erst durch das Abdunkeln der Lichter in den notwendigen „Tiefschlaf“.

Mit allen Helfern vor Ort wurden die vielfachen Schlingen des Elektrozaunbandes mit Messern und Zangen von Geweih und Träger entfernt. Spätestens bei dieser Arbeit wurde offensichtlich, dass ein selbständiges Befreien völlig ausgeschlossen war. Aus Interesse aber auch mit dem Ziel, den Hirsch in seiner künftigen Entwicklung zu beschreiben, konnte noch eine Ohrmarke angebracht werden.

Nach der Injektion des Antisedativums konnte der Hirsch in weniger als fünf Minuten bis auf wenige Schürfwunden weitgehend unversehrt wieder in die Freiheit entlaufen. Am Ort des Kampfes wurden eine abgebrochene Aug- wie eine Mittelsprosse gefunden. Dies zeigt mit welcher Kraft das Tier versuchte, sich aus der Lage zu befreien.

Nicht nur, dass der junge Hirsch gerettet werden konnte ist an diesem Erlebnis berichtenswert. Es zeigte sich wie wichtig eine gute Kommunikation zwischen Jagdgenossen, Bauern, Förstern und Jägern auch im Einzelfall sein kann. Ohne das „Miteinander“ wäre dieser Hirsch elend verendet. Auch wenn Teile der Bevölkerung wenig Achtung gegenüber geweihtragenden Säugetieren zeigen und der Jägerschaft selbst aus politischen Gruppierungen reine Trophäenjägerei vorgeworfen wird, ist dies ein Praxisbeispiel für tatsächlichen Tierschutz.

2019-01-07T17:42:59+00:00