Rehwild – Wanderverhalten

Rehwild – Wanderverhalten

Überlebensrate und Wanderverhalten

© Dr. Daniel Hoffmann, Game Conservancy Deutschland

Wissenschaftliche Studien zur Überlebensrate und dem Wanderverhalten von Rehwild sind wenig zahlreich. Dies liegt vor allem an dem hohen Aufwand, den sie mit sich bringen. Interessante Einblicke gibt es dennoch aus mehreren internationalen Freilanduntersuchungen. So geben sie Einblicke in die Hauptodesursache, insbesondere von Kitzen und das sehr individuelle Wanderverhalten dieser Wildart.

In Baden-Württemberg wie in der Schweiz laufen seit nunmehr 40 Jahren Rehkitzmarkierungen, die interessante Daten vermitteln können. Weitere Kitzmarkierungen aus Niederösterreich, Norwegen und Schweden aus längerfristigen Untersuchungen sind ebenso bekannt. In der Schweiz kann auf Daten von gut 14.000 markierten Rehen zurückgegriffen werden (Wälchli 2011, Bozzuto 2012; Signer & Jenny 2006) und in Baden-Württemberg sind es bereits mehr als 15.000 Individuen (Bauch et al. 2014). In den Jahren 1980 bis 1989 liegen Angaben für über 4.000 angebrachte Ohrmarken aus Niederösterreich (Reimoser et al. 1999) vor.

Setztermin: Tageslänge nicht allein entscheidend
Anhand der Markierungen der Kitze kann auch der Setzzeitpunkt relativ genau bestimmt werden. In Baden-Württemberg liegt der mittlere Setztermin (80 Prozent der Geburten) im Zeitraum zwischen 08.05. und dem 03.06.und für Niederösterreich wird eine vergleichbare Periode etwa zwischen dem 15.05. und dem 03.06. als Hauptsetzzeit angegeben. Aus Graubünden deuten die Ergebnisse auf einen etwas späteren Geburtstermin mit einem Maximum zwischen dem 25.05. und dem 10.06. hin. In Südschweden werden die Kitze schwerpunktmäßig erst um den 11.07. geboren. Vornehmlich fällt der Geburtenschwerpunkt beim Rehwild in deutlicher Abhängigkeit mit der Hauptvegetationszeit zusammen und keineswegs eine rein Tageslichtlängen abhängige Größe. Neben den geografisch unterschiedlichen Geburtsschwerpunkten ergeben alle Studien der Kitzmarkierung einen sehr ausgedehnten potenziellen Setzzeitraum. Zwischen Ende März bis in den August können Geburten festgestellt werden, allerdings sind diese Resultate als Ausreißer zu werten. Das Geschlechterverhältnis der markierten Kitze liegt bei einem leichten Überhang an männlichen Kitzen (ca. 51 bis 53 Prozent), was aufgrund der großen Gesamtstichprobe durchaus als ein repräsentatives Ergebnis gewertet werden kann.

Mähtod ist häufig
Werden markierte Rehe rückgemeldet, deren Anteil an der Gesamtstichprobe je nach Untersuchung zwischen 15 Prozent  und 21 Prozent beträgt, können bedingt auch Aussagen zu Abwanderungen und auch zur Mortalität getroffen werden.
Bauch et al. (2014) und Reimoser et al. (1999) kamen bei den nachvollziehbaren Todesursachen zu ähnlichen Resultaten und determinieren die jagdliche Entnahme als die häufigste Todesursache, die je nach Region über zwei Drittel der Rückmeldungen ausmacht. Ein ähnliches Ergebnis zeigen auch die Studien aus der Schweiz.  Dabei ist zu beachten, dass die Rückmeldung über eine Erlegung tendenziell überbewertet wird, da für das Fallwild wie für den Mähtod der Kitze der Fund eines verendeten Tieres vielfach zufallsabhängig ist. Als zweithäufigste Todesursache wurden mit Werten zwischen 12 und 20 Prozent Verkehrsunfälle festgestellt, während in der Betrachtung über alle Altersklassen immerhin knapp 10 Prozent der Rückmeldungen aus vermähten Kitzen zusammenkommen. In der Schweiz hat man daher differenziert in Mortalitätsursachen bei Kitzen und Stücken älter als ein Jahr. Je nach Untersuchungsjahr überwiegt bei den Kitzen teilweise sogar die Mortalität durch Mähmaschinen den Einfluss der Jagd. Bis über 35 Prozent der rückgemeldeten Kitze werden dort durch Mäharbeiten getötet.

Die Markierung von Rehkitzen mittels Ohrmarke kann wichtige Hinweise auf Wanderverhalten und Todesursachen liefern. Copyright: Jan Bo Kristensen
Regional fallen etwa die Hälfte aller Kitz dem Fuchs zum Opfer. Etwa zehn Prozent finden den Tod durch Wiesenmahd. Copyright: Dr. Nina Krüger

Gehen oder Bleiben?
Von den Schweizer Forschern (Müri 1999; Signer & Jenny 2006) wurde differenziert zwischen Abwanderungsindividuen und standorttreuen Individuen. Als Grenzwert wurde ein Radius von 1,5 Kilometer um den Markierungsort festgelegt. Unter dieser Vorgabe konnten in Graubünden, Schweiz, die Individuen je etwa hälftig in „Wanderer“ und „Standorttreue“ unterteilt werden. Deutlich anderes Verhalten zeigten die Rehe in Baden-Württemberg und Niederösterreich, wo sich in beiden Regionen etwa 80 Prozent der markierten Rehe bis zum Zeitpunkt der Rückmeldung nur maximal 1,5 Kilometer vom Markierungsort entfernt haben.

Entgegen vieler Erwartungen haben sich die Geißen im Durchschnitt weiter vom Geburtsort entfernt als die Böcke, wobei maximale Abwanderungsdistanzen bei den Böcken etwas höher lagen. Der Prozentsatz an Individuen, die sich weiter als 20 Kilometer vom Geburtsort entfernen ist mit 0,5 Prozent bis 2,1 Prozent gering. Dabei konnten einzelne Tiere aus einer Luftliniendistanz von bis über 50 Kilometer rückgemeldet werden.

Schwierige Altersschätzung
Ein spannendes „Zusatzergebnis“ liefern Reimoser et al. (1999) in ihren Arbeiten aus Niederösterreich. Das Alter der rückgemeldeten Tiere ist durch die eindeutige Markierung sicher bekannt. Vollständige Schädel der rückgemeldeten Rehe wurden erfahrenen Rehwildjägern vorgelegt, die eine Altersschätzung anhand des Zahnabschliffs, der zweifelsfrei gängigsten Methode zur Altersbestimmung, vornehmen sollten. Mit zunehmendem Alter werden die korrekten Altersschätzungen rapide weniger. Während die 1-jährigen Stücke zu knapp 80 Prozent richtig deklariert werden, entsprechen bei dreijährigen Rehen nur noch knapp ein Drittel der Angaben dem tatsächlichen Alter. Ab dem Alter „3 Jahre“ liegt die Altersansprache aufgrund des Zahnabschliffs bei mindestens einem Viertel der Angaben um zwei Jahre oder mehr daneben (vgl. Tab. 1).

Graue Literatur
Während die Kitzmarkierungen über die große Stichprobe und die langen Zeitreihen der benannten Untersuchungen interessante Ergebnisse zum Verständnis des Rehwildes liefern können, bleibt unbekannt, wie sich die Tiere im Einzelnen verhalten. Hierzu sind Daten nur durch die Telemetrie zu erheben. Bis vor wenigen Jahren konnte nur die Radiotelemetrie für das Rehwild eingesetzt werden, aber durch neue Entwicklungen ist es mittlerweile nahezu Routine, dass mit GPS-Sendern gearbeitet wird. Mit Radiotelemetriesendern wurden die ersten Arbeiten an Rehwild bereits in den 1970er Jahren begonnen, allerdings sind viele dieser Arbeiten nur schwer zugänglich, da nur wenig international publiziert wurde und vieles in der sog. „Grauen Literatur“ in Bibliotheken oder Behörden „schlummert“. So wurden auch im Saarland von Prof. Paul Müller und dem begnadeten Fangjäger und Telemetriespezialisten Herbert Carius mehrere Rehe besendert, deren Auswertung jedoch leider nicht vollendet wurde.

Viele Kitze werden Fuchsbeute
Für die Radiotelemetrie ist ein enormer personeller Aufwand erforderlich, da nur Ortungspunkte durch aktive Bearbeiter im Gelände gesetzt werden können. Beispielhaft sollen die vorbildlichen Arbeiten aus Norwegen durch die Forscher um Dr. John Linnell kurz beschrieben werden. In einer über 10-jährigen Freilandstudie wurden insgesamt 299 Rehe aller Altersklassen gefangen und telemetriert. Die enorme Datenmenge konnte in vielfacher Hinsicht ausgewertet werden und so wurde u.a. gezeigt, dass bis zu 50 Prozent der Kitze durch den Fuchs erbeutet werden. Dieses Ergebnis kann z.B. durch die oben skizzierten Rehkitzmarkierungen nur rudimentär nachgewiesen werden, da die Kitzbeute in der Regel vom Fuchs weggetragen und in Baunähe verspeist wird. Damit ist ein Wiederfinden der Marke kaum noch möglich.

 

Das Wanderverhalten von Rehwild ist sehr individuell. Manche wandern weit, manche wandern gar nicht. Copyright: Dr. Nina Krüger
Besonders junge Stücke, wie dieser Jährling machen mit dem Selbstständig werden mitunter lange Wanderungen. Copyright: Dr. Nina Krüger

Wanderverhalten wenig unerforscht
Wenn die Rehe das Kitzalter überlebt haben, beginnt im folgenden Frühjahr die Zeit der Selbständigkeit und der Ausprägung der Territorialität. Oftmals ist diese Phase geprägt durch Einstandswechsel und Territoriensuche, was jedoch in sehr unterschiedlicher Phänologie ablaufen kann. Für einige Individuen werden große Wanderungen beschrieben und in der norwegischen Untersuchung besetzte ein Schmalreh einen neuen Einstand in 130 Kilometer Entfernung zum Geburtsort. Ein weiteres Schmalreh zog im Sommer in ein 45 Kilometer entferntes Biotop, kehrte mit dem ersten Schneefall aber wieder zu seinem Geburtsort zurück. Mehrfach wurde dokumentiert, dass Jährlinge und Schmalrehe im ersten Sommer eigene Territorien suchten, um dann im Winter wieder zurückzukehren. Mit den im folgenden Frühjahr beginnenden Einstandskämpfen suchten sie darauf wieder gezielt ihren Standort aus dem Vorjahr auf. Das gesamte System des Dispersionsverhaltens der Rehe ist wesentlich komplexer als vielfach vermutet und verallgemeinernde Grundsätze sind schwierig zu fassen. Beim Rehwild ist die Tendenz zur Abwanderung deutlich weniger geschlechtsabhängig als bei anderen Cervidenarten. Schmalrehe wandern in annähernd gleichem Umfang wie Böcke und tatsächlich sind die weitesten Wanderungen von weiblichen Individuen beschrieben. Dort wo Rehe zwischen Sommer- und Wintereinstand wandern, haben die norwegischen Studien ebenfalls interessante Einblicke liefern können. Je karger und höher gelegen der Sommereinstand der Rehe liegt, desto später verlassen die Rehe im Frühjahr den Wintereinstand. Die Streifgebiete wachsen zudem unter schlechteren Habitatbedingungen erheblich an.

In den neuesten Rehwildstudien wird die GPS-Telemetrie eingesetzt, die zwar in der Materialanschaffung recht teuer ist, allerdings bedarf es eines erheblich verminderten Personaleinsatzes und in der Regel ist die Datendichte deutlich höher. Auch können Zusatzinformationen über Aktivitätszeiten, Körpertemperatur und Herzfrequenz gewonnen werden. In Deutschland gibt es zwei größere Rehwildstudien im Bayrischen Wald und in Baden Württemberg, wobei in dem noch laufenden, letztgenannten Projekt bisher wenig publiziert ist. Dort sollen durch die Forstwissenschaftliche Versuchsanstalt Baden-Württemberg auch Daten zum Verhalten von Rehen an Straßen gewonnen werden. Weitere Arbeiten im europäischen Ausland laufen oder liefen in Österreich (Gebiet Rosenkogel, vgl. Zeiler 2009), in Südwest Frankreich, in den Italienischen Alpen, in Norwegen und in Schweden. Einen aktuellen Überblick gibt das wissenschaftliche Netzwerk www.eurodeer.org.

Größere Territorien im Hochland
Im Nationalpark Bayrischer Wald wurden in den letzten Jahren über 200 Rehe mit GPS-Halsbandsendern ausgestattet. Der Nationalpark stellt aufgrund seiner naturräumlichen Ausstattung und der klimatischen Verhältnisse eine Sondersituation dar, so dass die Ergebnisse nur bedingt auf das Gros der mitteleuropäischen Landschaften zu übertragen ist. Dennoch geben die Arbeiten einen interessanten Einblick in den „Alltag“ von Rehwild.

Die Homeranges der besenderten Rehe lagen bei durchschnittlich 300 Hektar, was etwa dem 10-fachen Wert eines Streifgebietes im Flachland (vgl. französische Arbeiten) bedeutet. Die Spannbreite der Streifgebietsgrößen variierte zwischen 200 und 1185 Hektar. Die Rehe zeigten insgesamt eine geringe Standorttreue und wanderten im Umkreis von bis zu 50 Kilometer um den Nationalpark.

Wanderlust ist individuell
Zu unterscheiden sind saisonale Wanderungen, Jungtierwanderungen inklusive kleineren Exkursionen und Wanderbewegungen zur Blattzeit. Die saisonalen Wanderungen sind stark beeinflusst durch Nahrungserreichbarkeit, die ab einer Schneelage von ca. 30 Zentimetern stark beeinträchtigt ist. Prädation (hier Schwerpunkt Luchs) bedingt ebenfalls Wanderaktivitäten. Letztlich ist es der aufkommende Frühling, der die Tiere wieder zum Abwandern aus den Wintereinständen aus den tieferen Lagen bewegt, was in skandinavischen Arbeiten ebenfalls beschrieben ist. Die Wanderfreudigkeit der Rehe ist sehr Individuen abhängig. Manche Rehe wandern immer, andere nur ab und zu. Die jahreszeitlich bedingten Wanderungen betragen eine Wegstrecke von mindestens fünf bis sechs Kilometer, wobei der Wanderzeitpunkt im Frühjahr bei männlichen und weiblichen Individuen zeitgleich stattfindet. Hier fanden norwegische Forscher allerdings heraus, dass die weiblichen Individuen deutlich früher aus den milderen Lagen in die kargeren Sommerhabitate wanderten.

 

Etwa zehn Prozent der Rehkitze fallen den frühen Wiesenmahdten um Opfer. Copyright: Dr. Nina Krüger

Nur die Starken wandern
Im Spätsommer wandern die Böcke später in die Wintereinstände als die weiblichen Tiere und insgesamt ist die Standorttreue bei Böcken stärker ausgeprägt. Dies ist ein Ergebnis, das in mehreren Arbeiten bekräftigt wird.

Jungtierwanderungen sind grundsätzlich von drei Faktoren veranlasst. Es wird diskutiert, dass sie zur Vermeidung von Inzucht, zur Feindvermeidung sowie aus Gründen der Habitatbegrenzung durchgeführt werden. Die Hypothese, dass bei höheren Dichten mehr Abwanderungen zu  beobachten sind, konnte nicht bestätigt werden. Im Wald verließen insgesamt nur 20 Prozent der subadulten Individuen ihre Einstände, während bei Feldrehen etwa 40 Prozent abwandern. Die abwandernden Individuen sind in der Regel die stärksten Jungtiere. In einer französischen Studie konnte belegt werden, dass Jährlinge nur bei einem Gewicht > 14 Kilogramm wegzogen. Ein Jährling wanderte ausgehend von seinem Geburtsort erst 7 Kilometer in eine Richtung, kehrte dann zurück und setzte die Wanderung 31 Kilometer in die andere Richtung fort, um danach wieder in sein Geburtsareal zurückzukehren. Mit einem Anteil von 76 Prozent prüften die Schmalrehe und Jährlinge zunächst durch längere Erkundungstouren ihre Umgebung, bevor dann die endgültige Wanderung einsetzte.

Keine Verallgemeinerung möglich
Während die Erkundungstouren und Wanderungen bei einem Großteil der Jungtiere beobachtet wurden, blieben nur 23 Prozent (25 Prozent männliche und 20 Prozent weibliche) der Individuen tatsächlich dauerhaft an den neuen Standorten. Die übrigen kehrten wieder zurück. In Frankreich wurde die dauerhafte Besetzung von neuen Territorien in 40 Prozent der Fälle dokumentiert, während in einer schwedischen Studie, die in den Jahren 2007 bis 2010 insgesamt 13 Individuen untersuchte, kehrten die Subadulten generell nicht mehr in die Setzhabitate zurück. Eine Generalisierung bzgl. der Abwanderung kann also für das Rehwild in keinem Fall vorgenommen werden.

Weiteste Distanzen zum Geburtsort wurden im Bayrischen Wald bei einem Schmalreh festgestellt, das sich in 51 Kilometer Entfernung zum Geburtsort etablieren konnte. Ein Jährling, der im Winter eingefangen und besendert wurde, wanderte über die Hochlagen des Bayrischen Waldes und etablierte sich schließlich in Böhmen.  Bei einem Schmalreh wurde eine Wanderung von über 100 Kilometern in der Zeit zwischen dem 05. und 25.Mai nachgewiesen. Das Reh kam nach der Wanderung wieder in seinen ursprünglichen Einstand zurück.

Einfach Lösungen sind die Falschen
In diesem kurzen Aufsatz konnten nur einige interessante Ergebnisse wiedergegeben und zusammengetragen werden. Die Vielfalt im Verhalten dieser unserer kleinsten Hirschart ist beeindruckend und macht deutlich, warum die Art so erfolgreich sein kann. Der norwegische Forscher John Linnell beschreibt es so: „Das ist das Schöne am Rehwild: Immer, wenn du glaubst, du hast es verstanden, merkst du, dass du gerade erst damit angefangen hast“.

Diesen Ausspruch sollten sich Jäger und Förster wohl verinnerlichen, denn eine einfache Lösung ist immer die Falsche und es sollte dazu anregen, dass auch in Deutschland weiterhin Forschung an dieser spannenden Wildart betrieben wird.

2019-04-15T18:01:42+00:00April 15th, 2019|Allgemein|