Rehwild – überraschend unerforscht

Rehwild – überraschend unerforscht

Interessante Aspekte zum Rehwild

© Dr. Daniel Hoffmann, Game Conservancy Deutschland

Das Rehwild kommt heute in Mitteleuropa mit Ausnahme weniger Inseln flächendeckend vor und wird in unmittelbarer Siedlungsnähe ebenso angetroffen wie in großen zusammenhängenden Wäldern. In der norddeutschen Tiefebene ist die Art zuhause wie in den Höhenlagen der Alpen, die zur Sommerzeit auch oberhalb der Waldgrenze als temporärer Lebensraum genutzt werden.

Forschungsbedarf
Der überwiegende Teil der wissenschaftlichen Studien zum Rehwild stammt aus den 1970er und 1980er Jahren, aus denen detaillierte Angaben zu Nahrungspräferenzen und –bedarf, Geschlechterverhältnis in den Populationen und Altersstruktur der Populationen ersichtlich werden (z.B. Eisfeld 1974, 1975, Ellenberg 1974, 1978, Hartfiel 1985, Anke & Groppel 1982, Wandeler 1975, Stubbe et al. 1982, 1986, Strandgaard 1972, Pielowski 1984). In deutlich geringerem Umfang liegen jüngere Ergebnisse zum Rehwild vor (Wotschikowski 1994, Pegel & Thor 2000, Pettorelli et al. 2003, Focardi et al. 2006, Said & Servanti 2005). Obgleich dem Rehwild insbesondere in Deutschland eine hohe Bedeutung bei der Entwicklung von Naturverjüngungsflächen beigemessen wird, fehlen wissenschaftliche Studien hierzu. Ihm wird die Entmischung von Laubholzbeständen zugeschrieben, der Themenkomplex „Verbiss“ wurde jedoch nie stringent analysiert. Weiterhin wird in zahlreichen nichtwissenschaftlichen Veröffentlichungsorganen von einer „überhöhten“ Rehwilddichte gesprochen und von forstlichen Schäden, die mit Millionenbeträgen beziffert werden, allerdings fehlen oft Angaben zum Wuchspotenzial der Flächen, zum Lichtangebot am Waldboden und auch zur Rehwilddichte selbst.

Veränderte Bedingungen
In einigen älteren Studien wird die „biotisch tragbare Dichte“ erörtert und die verschiedenen Autoren (z.B. Leonhard 1959, Gründer 1959, Uckermann 1953, Stubbe 1966, Ellenberg 1974 und 1986) kommen je nach Naturraum zu sehr unterschiedlichen Angaben. Die landschaftsökologischen Grundbedingungen haben sich jedoch in den vergangenen 20 bis 30 Jahren erheblich verändert. Im Waldbau wird verstärkt die „naturnahe“ Waldwirtschaft umgesetzt und in der Landwirtschaft haben sich Bearbeitungsweisen, Feldgrößen und Feldfrüchte massiv entwickelt, so dass die älteren Daten auf die heutige Situation unserer Ökosysteme nur noch bedingt übertragbar sind.

Die Bestimmung der Populationsdichte beim Rehwild ist schwierig. Keine Methode allein liefert zufriedenstellende Ergebnisse. Copyright: Dr. Nina Krüger
Mit zunehmender Populationsdichte nehmen Körpergewicht und Gehörnqualität dramatisch ab. Copyright: Dr. Nina Krüger
Sowohl der Waldbau, als auch die landwirtschaftliche Praxis haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Frühere Studien sind daher oft nicht mehr relevant. Copyright: Dr. Nina Krüger

Der Bestand wächst
Auch dürften klimatische Veränderungen sowie geänderte Stickstoffeinträge gravierende Auswirkungen nicht nur auf die Zuwachsleistung und Fruktifizierung der Bäume selbst haben (Pretzsch et al. 2013), sondern auch in den  Populationen von Wildtieren zu wesentlichen Änderungen geführt haben. Das Schwarzwild konnte in den letzten drei Jahrzehnten die Populationsgröße sowie sein Verbreitungsgebiet erheblich ausweiten und wird entsprechend aufgrund der unmittelbar sichtbaren Schäden landauf landab diskutiert. Weniger bekannt hingegen ist, dass das Rehwild offensichtlich ebenfalls von sich ändernden Umweltbedingungen profitiert hat. Für Schweden ist beschrieben, dass die Art in der Mitte des 18. Jahrhunderts lediglich in einem Regierungsbezirk in Südschweden vorkam. Heute hat das Rehwild Skandinavien weitgehend besiedelt und kommt entlang der Küste bis zur nördlichen Barentssee vor. Das Vorkommen einer Art ist dabei, gerade in Regionen, in denen Menschen sich intensiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, in der Regel zügig bestätigt. Um diese Vorkommen auch quantitativ einzuschätzen bedarf es jedoch intensiver Studien und aufwändiger Verfahren. Gerade beim Rehwild ist eine Dichtebestimmung eine sehr arbeitsintensive Aufgabe und führt nur selten zu praxisrelevanten Einschätzungen. Von Zähltreiben über Losungssammelmethoden und Telemetrie – um nur einige Verfahren zu benennen –  sind es allesamt sehr anspruchsvolle Methodenanleitungen. Zählversuche mit herkömmlichen Scheinwerfern oder Infrarottechnik scheiterten beim Rehwild in den bisherigen Arbeiten und können oft auch nur einen allgemeinen Eindruck der Abundanz vermitteln. Ein interessanter Ansatz ist die Genotypisierung von Rehwildlosung, die auf fest vorgeschriebenen Transekten gesammelt und anschließend genetisch analysiert wird. Die Auswertung dieser Ergebnisse wird jedoch problematisch, da sehr viele Proben aufgrund ihres Alters keine DNA-Extraktion mehr zulassen. Damit wird das Ergebnis stark beeinträchtigt, was zu Bestandsüberschätzungen führen kann.

Mehr Rehe, weniger Gewicht
Dennoch sind Dichteschätzungen eine wichtige Grundlage und es ergeben sich daraus in manchen Fällen auch interessante Aspekte für die Jagd. Auf der norwegischen Insel Storfosna (Mittelnorwegen, Fläche ca. 1.000 ha) wurden in den Jahren zwischen 1989 und 1994 intensive Rehwildforschungen betrieben (Linnell 2007). Zu Versuchszwecken wurde eine dreijährige Bejagungspause festgeschrieben, in der sich der Rehwildbestand von ca. 10 Individuen pro 100 Hektar auf über 40 Individuen pro 100 Hektar vergrößerte. Die Konsequenz des Bestandsanstiegs waren signifikant reduzierte Wildbretgewichte und erheblich reduzierte Gehörnmassen. Interessanterweise hat sich das Abwanderungsverhalten der Rehe im gleichen Zeitraum verändert, jedoch nicht in der Form, wie es vielleicht zu erwarten war.

Überraschende Ergebnisse
Während bei den geringen Dichten zu Beginn der Studie Abwanderungen häufiger waren und auch regelmäßig Rehe die ca. 500 Meter bis zum Festland zu durchschwimmen versuchten, reduzierte sich die Wanderbereitschaft bei hohen Dichten. Linnell und seine Mitarbeiter folgerten daraus, dass zum einen schwächere Stücke kaum Kräfte für Wanderungen aufbringen können. Weiterhin werden geringe Jährlinge weniger als Konkurrenz von älteren Böcken angesehen und werden daher weniger intensiv aus dem Einstand vertrieben. Diese Fakten sind jedoch nicht alleine verantwortlich.

Rehwild wird die Entmischung von Naturverjüngungen nachgesagt. Dabei gibt es nur wenig belastbare Studien zu dem Thema. Copyright: Dr. Nina Krüger
Das Wanderverhalten von Rehwild wir von der Populationsdichte und der Qualität des Lebensraums beeinflusst. Copyright: Dr. Nina Krüger
Bei hohen Populationsdichten kann das Wanderverhalten abnehmen. Auch, weil ältere Böcke sehr schwache Jährlinge nicht als Konkurrenz sehen. Copyright: Dr. Nina Krüger

Populationsdichte und Wanderung
Hohe Dichten entstehen auch dort, wo Gunsthabitate vorhanden oder entstanden sind. Abwechslungsreiche Wälder mit vielen Randlinieneffekten und mosaikartig eingesprengten Jungwuchs- oder Wiesenflächen bzw. auch durch Insektenkalamitäten oder Windwurf entstandene Habitate sind hochattraktiv für das Rehwild. So berichtet Zeiler in seinem Buch „Rehe im Wald“ (2009) über eine Untersuchungsfläche, einer ca. 150 Hektar großen Waldinsel im südlichen England, in der ohne Bejagung die Rehwilddichte innerhalb von 10 Jahren nach einem Kahlhieb von etwa 45 Individuen pro 100 Hektar auf 76 Individuen pro 100 Hektar anstieg. Nachdem der Jungwuchs in die Dickungsphase überging, reduzierte sich der Rehwildbestand im Untersuchungsgebiet innerhalb von nur sechs Jahren auf unter 30 Rehe pro 100 Hektar. Regulation bedeutet dabei nicht immer zwangsläufig das Überwiegen von Sterblichkeit gegenüber der Geburtenrate, sondern gerade bei mobilen Arten können insbesondere in den überwiegend offenen Systemen des Festlandes Wanderungen die lokalen Dichten stark oder überwiegend beeinflussen. Die Inselsituation, wie sie von z.B. Linnel (2007) geschildert wird, stellt sicher eine Sondersituation dar. Sie ist zwar nicht automatisch auf Festlandsituationen zu übertragen, aber es zeigt sehr deutlich, welche Plastizität das Rehwild in seinem Verhaltens- und Populations-Repertoire aufweisen kann.

Variables Verhalten
Die Variabilität in der Dichte sowie die lebensraumabhängige Regulation lassen den Schluss zu, dass es beim Rehwild kein einfachstrukturiertes und übertragbares „Revierwissen“ geben kann, denn im Zweifel treffen diese „Erkenntnisse“ nur wenige Kilometer oder auch nur einige Jahre weiter nicht mehr zu. Für die Jagd wie auch die Forstwirtschaft sollte aus diesen Beispielen zu erkennen sein, dass nicht das Reh für sich Gegenstand des Denkens sein kann, ebenso wenig wie ein eingeschränkter Blick auf Jungbaumindividuen. Wie es ökosystemgerechtes Jagen erfordert, sind die Konsequenzen des jagdlichen Handelns nicht monokausal und gegenwärtig zu beleuchten, sondern es erfordert die Bereitschaft, die Folgen – also die Zukunft – des jeweiligen Handelns für die gesamte Natur abschätzen zu lernen (vgl. Müller 1998).

2019-03-04T17:36:23+00:00März 4th, 2019|Allgemein|